Weiter Blick und weites Herz - Warum der Abgesang auf die Ortskirche nicht weiterhilft. Ein Kommentar zu den Elf Leitsätzen

„Hinaus ins Weite“ sollen sie führen, die Elf Leitsätze des von der EKD-Synode berufenen Zukunftsteams: hinaus ins Weite einer öffentlich wirksamen, gesellschaftlich relevanten, politisch und diakonisch präsenten Kirche. Ein Relaunch von „Kirche der Freiheit“: endlich aus- und aufbrechen aus einer in die Defensive geratenen verkrusteten, parochial gegliederten Amts- und Vereinskirche, hinaus ins Weite einer aufgeschlossenen Kirche, „die Teilhabe ermöglicht, Gemeinschaft lebt und ihren Glauben authentisch bezeugt.“

 

Das hört sich gut an. Aber führt der Weg, den die Elf Leitsätze skizzieren, wirklich hinaus ins Weite? Oder führt er die evangelische Kirche hinein ins Ungefähre? Das steht zu befürchten, denn wenn es nach dem Willen des Zukunftsteams geht, werden parochiale Strukturen als „klassische(s) Modell einer ‚Vereinskirche‘ mit ihren statischen Zielgruppenangeboten“ abgelöst von einer „flexible(n) Präsenz von Kirche an wechselnden Orten“, ja von Resonanzräumen, „in denen Herz und Seele berührt und die zeugnishafte Präsenz in der Gesellschaft bestärkt“ werden. Das nenne ich „hinaus ins Ungefähre“!

 

Denn dieser Abgesang auf die Ortskirche blendet aus, dass die Verbundenheit der Kirchenmitglieder mit der evangelischen Kirche weitgehend von ihrer Verbundenheit mit der Kirche vor Ort lebt und das öffentliche Ansehen der Kirche untrennbar mit dem Ansehen der Kirche vor Ort verbunden ist. Gerhard Wegner hat es in seinem jüngsten zeitzeichen-Artikel auf den Punkt gebracht: „Die Schwächen der Ortskirchengemeinden sind die Schwächen der evangelischen Kirche insgesamt.“ Wer „die Kirche“ stärken will, muss deshalb die Kirche vor Ort stärken.

 

Der Weg „hinaus ins Weite“ führt deshalb hinein in die Wirklichkeit kirchlichen Lebens vor Ort.

Keine Frage, dass diese Wirklichkeit nicht immer beglückend ist. Und keine Frage, dass sich kirchliches Leben auch anderswo abspielt. Aber genau deshalb hätte man erwarten dürfen, dass das Zukunftsteam die vom Impulspapier „Kirche der Freiheit“ angestoßenen Reformprojekte auswertet: haben sie dazu geführt, dass die Mitgliederbindung gestärkt, neue Milieus erschlossen, Kirchenaustritte verlangsamt, das Evangelium aller Welt verkündet und die Stimme der Evang. Kirche in der Öffentlichkeit deutlicher wahrgenommen wurden?

Und warum verzichtet das Zukunftsteam auf eine kritische Überprüfung der soziologischen Thesen, die den Elf Leitsätzen zugrunde liegen? Stimmt die These von der Singularisierung der Gesellschaft? Oder betrifft dieser Trend lediglich bestimme (z.B. zahlungskräftige, bildungsaffine) Milieus? Stimmt die These, dass in der gegenwärtigen Gesellschaft nur diejenigen bestehen können, die im Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit und Resonanz erfolgreich sind? Welche Lebensvollzüge und Sozialgestalten werden durch diese These möglicherweise ausgeblendet? Und genügt die Beschreibung der Kirche als „Hybrid“ aus Institution, Organisation und Bewegung? Welche zusätzlichen Erkenntnisse ließen sich gewinnen, wenn sie z.B. auch als System von Netzwerken verstanden wird, in denen das Evangelium in den Häusern und Familien, durch Kirchgänger, Ehrenamtliche und last but not least auch durch (in den elf Leitsätzen kein einziges Mal erwähnten) Pfarrerinnen und Pfarrer kommuniziert wird?

 

Kurzum: von einem Zukunftsteam der EKD hätte ich mir einen weiten Blick und ein weites Herz, anders gesagt: eine differenziertere Wahrnehmung der kirchlichen Wirklichkeiten mit ihren Licht- und Schattenseiten, mit Erfreulichem und Beklagenswertem, mit ihren Armseligkeiten und ihren immer wieder erstaunlichen Möglichkeiten zur Veränderung erwartet.

 

Im württembergischen Verständigungsprozess „Kirche, Gemeinde und Pfarrdienst neu denken“ hat sich gezeigt, dass die Parochien und Kirchengemeinden zumindest in unseren Breiten kein Auslaufmodell sind.

Die vielfältigen Aktivitäten während der Corona-Zeit haben das eindrücklich bestätigt. Gerade die ortskirchlichen Strukturen und die in diesen Strukturen tätigen Pfarrerinnen und Pfarrer haben ein hohes Maß an Flexibilität, Kreativität und „authentischer Frömmigkeit“ unter Beweis gestellt – und interessanterweise haben insbesondere die lokalen Gottesdienste, live, gestreamt, gedruckt, in Zeiten von Social Distancing enorme, auch überörtliche Aufmerksamkeit erfahren.

 

Hier sind also die „Orte geistlicher Weitergabe und Erneuerung“, die es zu stärken gilt. Hier, vor Ort, wird (durchaus in Kooperation mit überörtlichen kirchlichen Diensten!) bereits mit jenen neuen Formen kirchlichen Lebens experimentiert, die in den Elf Leitsätzen erst auf der Wunschliste stehen: flexible und individuelle Angebote von Kasualien und christlicher Lebensbegleitung, Förderung und Stärkung relevanter Beziehungen, Bereitstellung christlicher Sozialisationsräume für junge Menschen, neue Formen der Versammlung um Wort und Sakrament. Hier vor Ort wird greifbar, was Kirche-Sein in der Öffentlichkeit bedeutet: als respektierter Partner im Stadtteil und im Dorf, aber auch im mitunter zähen, unerfreulichen Ringen mit Behörden und Interessensgruppen um KiTas, verkaufsoffene Sonntage und andere kommunale Aufregerthemen, in der Auseinandersetzung mit Wut- und Frustbürgern und was der banale Alltag sonst noch bereithält.

Nicht zu unterschätzen ist auch, dass die Kirchengemeinden der Ort sind, an dem Kirchenmitgliedschaft in höchst unterschiedlichen Formen von Nähe und Distanz gelebt wird. Distanzierte Kirchenmitglieder suchen ja keine distanzierte Distanz, sondern eine nahe Distanz, für die es offenbar genügt, dass die Kirchenglocken läuten und dass es Menschen gibt, die zur Kirche gehen und, falls nötig, auf religiöse Themen ansprechbar sind. Solange diese nahe Distanz gelebt werden kann, bleiben sie in der Kirche, auch wenn sie sich darüber ärgern, dass homosexuelle Paare getraut – oder nicht getraut werden – oder die EKD sich an einem Seenotrettungsschiff beteiligt – oder nicht beteiligt. Erst wo die nahe Distanz nicht mehr erlebbar ist, beginnen die distanzierten Kirchenmitglieder, über den Austritt aus der Kirche nachzudenken. Und dann ist (fast) jeder Anlass recht.

Und schließlich sind die Gemeinden der Ort, an dem „authentisches Christsein“ in einer diakonisch und missionarisch wirkenden Kirche eingeübt und gelebt werden kann: eine Kirche, die sich im Wissen um die eigenen Begrenzungen „für die Schwachen, Ausgegrenzten, Verletzten und Bedrohten einsetzt“, gemeinsam mit einer Diakonie, die sich vom diakonischen Unternehmertum löst und sich auf exemplarisches und stellvertretendes Handeln mit den Möglichkeiten vor Ort konzentriert.

 

Keine Frage: die Ortsgemeinden sind auf Ergänzung durch regionale und überregionale Strukturen angewiesen. Darüber sind sich die haupt- und ehrenamtlich Verantwortlichen vor Ort zunehmend bewusst, und an vielen Orten werden bereits verheißungsvolle Schritte in diese Richtung unternommen. Dafür braucht es aber kirchliches Leitungshandeln, das den Gemeinden ermöglicht, sich selbstwirksam zu entfalten.

 

Es gehört wohl zum unergründlichen Humor Gottes, dass er sich in unseren oftmals wenig glanzvollen kirchlichen Wirklichkeiten finden lassen will: überall dort, wo sich Menschen um das Evangelium versammeln, wo getauft und Abendmahl gefeiert wird. Im allersten Satz der Elf Leitsätze ist von dieser Gegenwart Gottes in der Kirche kurz die Rede: „Die Kirche der Zukunft bleibt Gottes Kirche“, heißt es da. Aber dieser Einsicht folgt sogleich die Darstellung der gegenwärtigen Krise, nur kurz unterbrochen durch die Überlegung, dass die Krise der Kirche eine Glaubenskrise sei und es deshalb „der Zuversicht und des Vertrauens auf Gottes Verheißungen“ bedarf. Welche Verheißungen gemeint sind und inwieweit sie der Orientierung dienen können, wird nicht ausgeführt. Eine verpasste Gelegenheit! Denn die Frage nach der Gestalt und den Aufgaben einer verheißungsorientierten Kirche erweist sich immer wieder als praktikabler Türöffner für theologisch fundierte Überlegungen zur Zukunft der Kirche.

 

Hier müsste nach meinem Dafürhalten die Diskussion über die Zukunft der Kirche einsetzen, und die EKD hätte als Dienstleister ihrer Gliedkirchen die Chance, geeignete Plattformen für die notwendigen theologischen Klärungen bereitzustellen. Welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind, muss dann auf Ebene der Landeskirchen entschieden werden.

 

Es wären dann auch die durchaus berechtigten Anliegen der Elf Leitsätze zu diskutieren, nämlich wie sich eine kleiner werdende Kirche als Kirche vor Ort von hinderlichen vereinsähnlichen Strukturen, als Amtskirche von hinderlichen bürokratischen Strukturen und als Gesamtkirche von hinderlichen staatsanalogen Strukturen lösen kann.

Hierzu gehört z.B. die Frage, welche inhaltlichen, personellen und baulichen Ressourcen die Kirchen vor Ort in gemeinwesenorientierte Konzepte im Sinne einer diakonischen Gemeinde einbringen können.

Wie soll es weitergehen mit der marktorientierten, weitestgehend staatlich finanzierten Unternehmensdiakonie? Sind andere, fluidere Formen kirchlicher Diakonie denkbar? Und wann wäre es an der Zeit, das Privileg des Dritten Wegs aufzugeben?

Müssen Pfarrerinnen und Pfarrer eigentlich auch in Zukunft verbeamtet werden – oder gibt es andere Möglichkeiten, um die Freiheit zur Wortverkündigung und zur Wahrung des Beichtgeheimnisses zu schützen?

Und wie kann sich eine kleiner werdende Kirche finanzieren, wenn ihr in einer Gesellschaft, die Religionsfreiheit zunehmend als Freiheit von Religion versteht, das Privileg des Kirchensteuer-Einzugs entzogen wird?

 

Einen letzten Gedankengang möchte ich dem Leitsatz zur Mission widmen. Unter dieser Überschrift ist viel von Sprachfähigkeit, Dialogbereitschaft und authentisch gelebtem Glauben die Rede, vom stellvertretenden geistlichen, diakonischen und politischen Handeln der Kirche im Geist Christi, von Kooperationen mit zivilgesellschaftlichen Partnern und möglichen Koalitionen auch außerhalb (!?) der Kirche – nur die Frage, wie man zum Glauben kommen kann, wenn man nicht in eine christliche Familie hineingeboren wird, wird sorgsam vermieden. Aber können wir uns als Kirche in einer pluralen Gesellschaft wirklich damit begnügen, bei der Gewinnung neuer Mitglieder lediglich auf das Prinzip der biologischen Reproduktion zu setzen? Schon die rückläufigen Taufquoten sprechen dagegen. Und der Auftrag zur Mission ohnehin.

Aber wie kann eine einladende, auf Konversion zielende, die Grenzen von Kultur, Nationalität und Religionszugehörigkeit überschreitende Mission, die „wahrheitsfindend und glaubensfördernd wirkt und Teilhabe ermöglicht“, gelebt werden? Auch diese Frage stellt sich, wenn wir als Kirche „hinaus ins Weite“ wollen.