Innere Leitbilder für Kirche und Gemeinde

Innere Bilder und Vorstellungen von Kirche und Gemeinde sind vielfach – und oft unbewusst – handlungsleitend. Solche Idealbilder können an soziologisch geprägte Begriffe anknüpfen, mit denen Kirche beispielsweise als Institution, Organisation, Bewegung und Netzwerk umschrieben wird (vgl. Skizze „Kirche und Gemeinde, soziologisch betrachtet"). Andere Bilder orientieren sich an biblischen Bildern von Kirche und Gemeinde (vgl. Skizze „Kirche und Gmeiende in der Bibel") oder an Erfahrungen der eigenen Lebenswelt.

Kirche als Familie greift eine Sozialstruktur von Beziehungen auf, die vielen Menschen vertraut ist. In der katholischen Tradition kann die Gemeinde auch als "Pfarrfamilie" bezeichnet werden. Und wenn wir schon bei unserer Schwesterkirche sind: der Papst als "Heiliger Vater", die "Mutter Kirche" – diese Bilder wecken viele Emotionen und geben damit auch Verhalten vor.

Idealerweise ist die Familie ein zentraler Bezugspunkt im Leben, ein Ort der Beheimatung und der Sicherheit. In der Familie übernimmt man Verantwortung füreinander, man hält zusammen, trifft sich zu gemeinsamen Mahlzeiten und verbringt Zeit miteinander.
Zugleich ist die Familie eine tendenziell geschlossene Form von Gemeinschaft. Das Leitbild von Kirche als Familie kann deshalb stark normierend und ausgrenzend wirken. Dann spricht man zwar von "Geschwistern" im Glauben, aber verbindet damit den Zusatz: Geschwister kann man sich nicht aussuchen, Freunde schon.
Und so gilt für Kirche als Familie das, was für alle Familien gilt: mit der einen / dem anderen kommt man besser, mit dem einen / der anderen schlechter aus. Konflikte sind da, manchmal unter den Teppich gekehrt, manchmal so heftig ausgetragen, dass sie zum Abbruch von Beziehungen und zum Kirchenaustritt führen…
Die Vorstellung von Kirche als Familie ist deshalb auf Ergänzung durch andere, auf Offenheit und Weite ausgerichtete Bilder angewiesen.

Dies gilt auch für die Vorstellung von Kirche als Gemeinschaft der Gleichgesinnten. Die, die gleich denken und leben, schließen sich zusammen. Vielleicht kann man hier – im Unterschied zum Familienbild – auch vom "Freundeskreis" sprechen.
Gleiche Interessen, gleiche oder zumindest sehr ähnliche Ansichten, ähnliches Alter und Milieu … so entstehen Gemeinden der Gleichen, Personalgemeinden.  
Auffallend ist die Anzahl der Neugründungen von Gemeinden, die oft als Abspaltung von einer anderen Gemeinde entstehen, weil diese nicht mehr fromm genug oder nicht politisch genug (das eher weniger) sind oder weil da Frauen zu viel / zu wenig zu sagen haben oder weil die Form der Gottesdienste nicht passt. Dieses Denken passt zu einer Gesellschaft der Singularitäten, in denen man in "Blasen" Gleichgesinnter unterwegs ist.

Spannend ist der Hinweis aus der Systemik, dass Systeme immer darauf achten, dass sie im "Gleichgewicht" bleiben – dies wird auch dadurch hergestellt, dass Störungen verhindert / beendet werden, indem "Störer" ausgeschlossen werden – oder diese sich selbst verabschieden.

Diese Logik gilt auch für das innere Leitbild von Kirche als Gegenwelt. Hier wird betont: Wir sind anders als die Welt. Manchmal mit dem Unterton: wir sind "besser".
Es geht um eine "Überzeugungskirche", in der bestimmte Glaubenssätze und Moralvorstellungen dominieren.  
Man versteht sich als Kontrastgemeinschaft, die "sich nicht der Welt gleich macht" (Röm 12,2). Das eigene Selbstverständnis dreht sich um die Differenz, das "Besondere", das "Heilige". Wo Kirche als Gegenwelt verstanden wird, geht es um die kleine Zahl der Entschiedenen. Eine Tendenz zur Sektenbildung ist nicht von der Hand zu weisen.

Ganz anders hingegen - zumindest auf den ersten Blick - das Leitbild von Kirche als Aktionsgemeinschaft (vgl. Skizze "Kirche und Gemeinde, soziologisch betrachtet"). Hier spielt die bewusste Zuwendung zur Welt, der Wunsch nach aktiver Veränderung eine wichtige Rolle.
Kirche als Aktionsgemeinschaft lebt von der Vorstellung, dass Menschen sich zusammenschließen, um etwas zu erleben oder zu bewegen. Kirche hat dann eine Funktion: Man tut etwas gemeinsam. Das kann missionarisch sein oder diakonisch, friedensbewegt oder ökologisch, spirituell oder - oder…

In der sogenannten "Flüchtlingskrise" wurde dieses Leitbild für Kirche erlebbar: an vielen Orten entstanden Asyl-Freundeskreise. Die Aufgabe, Menschen, die ihre Heimat verlassen haben und hier ankamen, zu unterstützen, ihnen zu helfen, hat Christenmenschen zusammen gebracht. Auffallend war und ist, wie viele Menschen, die nicht am klassischen Gemeindeleben teilnehmen, sich hier, unter ausdrücklichem Hinweis auf ihr Christsein, engagieren. Mitgewirkt haben auch viele Menschen, die sich nicht als Christen bezeichnen.
Gefährlich kann dieses Leitbild werden, wo sich ein solches Aktionsbündnis als Speerspitze einer idealen Kirche oder Gesellschaft versteht, als Elite, die nach den "richtigen" Maßstäben lebt, im Gegensatz zu den vielen, die sich nicht engagieren.

Dieser Gefahr wird dort begegnet, wo das innere Bild von Kirche als Netzwerk handlungsleitend wird: Kirche mit anderen für andere im Sinne der "Sorgenden Gemeinde" (Näheres unter "Kirche und Gemeinde, soziologisch betrachtet").


Weitere Bilder, die hier nur angedeutet werden können, sind Kirche als Garten, in dem viele bunte Pflanzen wachsen, Kirche als Weggemeinschaft oder Kirche als Gasthaus am Wegesrand.

Im Verständigungsprozess "Kirche, Gemeinde und Pfarrdienst neu denken" wird Gelegenheit sein, unsere handlungsleitenden Bilder von Kirche zu reflektieren und um weitere Vorstellungen von Kirche zu ergänzen, die dazu beitragen können, als Kirche Jesu Christi den Herausforderungen der Gegenwart konstruktiv zu begegnen.

Grafiken: Joachim L. Beck, Ehem. Direktor Zentrum Diakonat; Text: Joachim L. Beck und Georg Ottmar