Kirchliche Sozialformen als Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen

Es ist spannend, die verschiedenen Sozialformen von Kirche als Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen zu sehen:

Die prägende Sozialform der Urgemeinde war die Hausgemeinde (vgl. Skizze „Kirche und Gemeinde in der Bibel", zum Stichwort Ekklesia). Sie hat sich aus dem in Apostelgeschichte 2,42-47 entworfenen Ideal der „Urgemeinde" entwickelt, die als „Gemeinschaft im Brotbrechen und im Gebet" beschrieben wird. Man traf sich „hier und dort in den Häusern"; alle teilten, was sie hatten.
Aus den Briefen des Paulus erfahren wir, dass vermögende Gemeindeglieder ihre Häuser als Treffpunkt für gemeinsame Mahlzeiten und Gottesdienste zur Verfügung stellten. Ein solches „Haus" konnte Platz für 40 bis 50 Personen bieten; die Hausherren übernahmen die Rolle des Gastgebers als einer frühen Form der Gemeindeleitung.
Die Hausgemeinde war eine deutliche Minderheitenkirche, die sich in der heidnischen Umwelt und, grundsätzlicher, in Erwartung der nahenden Endzeit, fremd gefühlt hat (1. Petrus 1,17 u. ö.).

Mit der Konstantinischen Wende verändern sich die Sozialformen der Kirche. Das Christentum wird Staatsreligion – und damit entsteht formal eine Mehrheitskirche. Kirche und Christentum sind anerkannte und akzeptierte Partner des Staates, wechselseitige Einmischung inklusive.
Die enge Verbindung zwischen Staat und Kirche blieb auch im Zeitalter der konfessionellen Ausdifferenzierung prägend. Dies zeigt sich u.a. darin, dass die Konfession des Landesherrn die Konfessionszugehörigkeit der in seinem Territorium lebenden Bevölkerung bestimmte ("cuius regio, eius religio").

Mit der Etablierung der "Reichskirche" ab dem 4. Jahrhundert organisiert sich Kirche in örtlichen Gemeinden, den sogenannten Parochien (Pfarrbezirken). Sie waren teilweise selbständig, konnten z.B. eigene Kirchenbauten errichten; zugleich wurden sie durch einen vom Bischof entsandten Priester geleitet. Als ausdifferenzierte Verwaltungsstruktur ermöglichten sie eine zunehmend flächendeckende religiöse Versorgung der Bevölkerung und sicherten zugleich den politischen Einfluss der jeweiligen Machthaber.

Die Trennung von Kirche und Staat wurde 1919 in der Weimarer Reichsverfassung beschlossen. Damit einher geht die „Säkularisierung“ im Sinne eines Rechtsbegriffs: Ordensangehörige werden Weltpriester, der Kirchenbesitz wird in staatlichen Besitz verwandelt. Die Übergabe von Kircheneigentum an den Staat ist die Begründung der Staatsleistungen, die heute einen (wesentlichen) Teil der Finanzen der Württembergischen Landeskirche ausmachen.
Zugleich bleibt Kirche ein – durchaus bevorzugter – Player und Partner im subsidiär organisierten Sozialwesen: Kirche übernimmt Aufgaben des Staates im Bereich Kindertagesstätten, Diakonie, Beratung etc., diese Aufgaben werden vom Staat refinanziert.
Manchmal wird die Frage gestellt, was dann noch Kirche sei bzw. wie in diesen Strukturen das Christliche gelebt werden kann.  
Als „Körperschaft öffentlichen Rechts“ ist die Kirche zugleich verantwortlich für die Ausgestaltung der inner-kirchlichen Rechtsverhältnisse – die Debatte um die Bedeutung der Kirchenmitgliedschaft für Mitarbeitende in Diakonie und Caritas gehört in diesen Themenbereich.

In den letzten Jahrzehnten wird der Bedeutungswandel von Kirche erkennbar: Mitgliedschaft in einer Kirche / Religionsgemeinschaft wird zu einer Frage der persönlichen Entscheidung und Wahl. Austritt ist in der "Multioptionsgesellschaft" eine gesellschaftlich akzeptierte Wahlmöglichkeit.

Neben den Austritten wirkt sich auch der demografische Faktor auf die Größe der Kirche aus: es sterben mehr Kirchenmitglieder als Menschen getauft – und damit Mitglied der Kirche – werden.

Im Vergleich mit anderen Landeskirchen ist Württemberg hier vielleicht noch eine "Insel". Gleichwohl sinkt die Bedeutung und der Einfluss der Kirche auf politische Entscheidungen ebenso wie auf persönliche Präferenzen und Einstellungen (Beispiele: Sonntagsheiligung; Sexualmoral; § 218).

Kirche wird in der Multioptionsgesellschaft zu einer Gemeinschaft unter anderen. Zur Kirche zu gehören ist ein Akt der eigenen Entscheidung. Dabei verliert die parochial verfasste örtliche Kirchengemeinde allmählich an Bedeutung, denn die Zugehörigkeit zur Kirche wird immer weniger vom Wohnort abhängig gemacht.
Entscheidend wird vielmehr das Profil der Gemeinde, das Angebot, die Möglichkeit sich dort zu engagieren und zu beheimaten – aber auch die Persönlichkeiten, die die Gemeinden prägen, als Ehrenamtliche oder Pfarrer*in oder Diakon*in oder Kirchenmusiker*in oder – oder.
So entstehen Personal- und Lebensweltgemeinden, Gemeinden auf Zeit, Projektgemeinden, diakonisch oder missionarisch aktive Aktionsbündnisse etc.  – teilweise in Ergänzung, oft jedoch in Abgrenzung zur lokal verfassten Kirche.

Es ist eine der Herausforderungen und Aufgaben der kirchenleitenden Gremien, die kirchlichen Sozial- und Gesellungsformen angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen weiterzuentwickeln.
Welche Strukturen helfen, das Evangelium in all seinen Dimensionen (in Wort und Tat) zu kommunizieren?