Sichtbare und unsichtbare Kirche

Die Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche beruht auf der Wahrnehmung, dass die erlebte Wirklichkeit von Kirche und die biblisch-theologischen Aussagen über das Wesen der Kirche nicht ohne Weiteres zusammenpassen.

Das war schon zur Zeit der frühen Christen so. In seinem ersten Brief an die Korinther spricht Paulus die dortige Gemeinde an als die „Gemeinde Gottes", „die Geheiligten in Christus Jesus" (1.Korinther 1,2). In den folgenden Kapiteln setzt er sich dann aber ausführlich mit den heftigen Konflikten auseinander, die das Zusammenleben der dortigen Gemeinde bedroht haben (Vgl. hierzu Skizze I: „Kirche und Gemeinde im Neuen Testament", zum Stichwort „Ekklesia").

In dieser Spannung lebt Kirche bis heute. Im Glaubensbekenntnis bekennen wir die „heilige christliche Kirche" als „Gemeinschaft der Heiligen". Damit bringen wir zum Ausdruck, dass sie ihre Existenz dem Heilshandeln Gottes verdankt und aus dem Evangelium von Jesus Christus lebt.

Aber gleichzeitig erleben wir Konflikte, Streit und unheilvolle Ausgrenzung in den Kirchen und ihren Gemeinden.

Die Unterscheidung von „sichtbarer" und „unsichtbarer" Kirche bringt diese Differenzerfahrungen zum Ausdruck.

Sichtbare Kirche bezeichnen wir dabei all das, was wir in Kirche und Gemeinden erleben. Dazu gehört vieles, woran wir uns freuen: Kreise und Gruppen, ermutigende Gottesdienste, diakonisches Engagement, gelingende ökumenische Kontakte, aber auch ein ansprechend gestalteter Gemeindebrief, ein Besuch zum Geburtstag, eine funktionierende Verwaltung ….
Zur sichtbaren Kirche gehört aber auch all das, was uns ärgert oder enttäuscht. Das können Skandale sein, die Schlagzeilen machen, z.B. Berichte über sexuellen Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen und Gemeinden.
Das können aber auch alltägliche Begebenheiten sein: Ausgrenzung in Gruppen und Kreisen, persönliche Eitelkeiten, Machtspiele, Besserwisserei, mangelnde Anerkennung oder die Erfahrung, dass Initiative und Engagement ohne Resonanz bleiben. Oft hören oder sagen wir dann: "Und die wollen Christen sein…" Und dann wird von "schwarzen Schafen" berichtet, von Fehlverhalten, Zurückweisung und Lieblosigkeit. –
Erfreulich und ärgerlich. So wird die sichtbare Kirche erlebt.

Unsichtbare Kirche hingegen meint die "geglaubte", "geistliche" Kirche, das, was nicht von Menschen gemacht ist. Wir könnten auch sagen: Gottes Kirche, Gottes Reich.


Das Reich Gottes ist deutlich größer und "reiner" als das, was sichtbar und erkennbar ist.
 Im 1.Johannesbrief wird die Differenz zwischen schon jetzt und noch nicht (ganz) wunderbar beschrieben:
"Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder, es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden" (1.Johannes 3,2). Die Reformatoren haben deshalb auch von der verborgenen Kirche gesprochen.


Die Unterscheidung von "sichtbarer" und "unsichtbarer" Kirche kann – wie jede Unterscheidung –missbraucht werden. Das ist immer dort der Fall, wo sich eine Gruppe von Christinnen und Christen als "wahre" Kirche versteht und alle anderen als "ungläubig" diffamiert und bekämpft. Strikte Ablehnung der vermeintlich "Anderen", schmerzliche Auseinandersetzungen bis hin zu Trennungen und Gemeinde-Neugründungen sind die Folgen.


Zur Unterscheidung von verborgener/unsichtbarer und sichtbarer Kirche gehört deshalb, dass wir möglichst präzise beschreiben, wie sie zusammengehören. Denn Unterscheidungen dienen dazu, Verschiedenes zu benennen, das aufeinander bezogen ist. Denken wir nur an die Unterscheidung von Leib und Seele, mit der wir das Menschsein als Ganzes beschreiben: beides gehört untrennbar zusammen.
Auf die Kirche übertragen: sichtbare und unsichtbare Kirche lassen sich zwar unterscheiden, aber nicht voneinander trennen. Die spannende Frage ist deshalb, wie die unsichtbare, verborgene Kirche in der sichtbaren Kirche erkennbar wird.
In der Confessio Augustana, dem Augsburger Bekenntnis, heißt es dazu:
"Es wird auch gelehrt, dass allezeit eine heilige, christliche Kirche sein und bleiben muss, die die Versammlung aller Gläubigen ist, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden…" (CA VII).
Erkennbar wird (nach der CA) die verborgene/unsichtbare Kirche also da, wo die christliche Gemeinde zusammenkommt, um Gottes Wort zu hören und Taufe und Abendmahl zu feiern.
Dabei ist die (sichtbare) "Versammlung der Gläubigen" nicht deckungsgleich mit der (unsichtbaren/verborgenen) "Gemeinschaft der Heiligen". Vielmehr entsteht die "Gemeinschaft der Heiligen" jedes Mal aufs Neue. Denn der Glaube kommt aus dem Hören des Evangeliums (Römer 10,17).  Wo also das Wort Gottes in der "Versammlung der Gläubigen" zu Gehör gebracht und in Taufe und Abendmahl gefeiert wird, da erweckt uns Gott zum Glauben, da ermöglicht er uns Teilhabe an der "Gemeinschaft der Heiligen".


Die sichtbare Kirche ist also so etwas wie ein Rahmen oder Raum, in dem Menschen vom Evangelium erreicht, angerührt und bewegt werden können – kurzum: zum Glauben kommen und im Glauben bestärkt werden können. Dies geschieht nicht nur im Gemeindegottesdienst, sondern kann auch in der Familie, im Bekanntenkreis, in der Seelsorge, in der kirchlichen Bildungsarbeit usw. geschehen. Dies kann, wenn wir den unauflöslichen Zusammenhang von besonderem Gottesdienst und Gottesdienst im Alltag der Welt (Römer 12) im Blick behalten, auch da geschehen, wo in der sichtbaren Kirche Menschen unterstützt, Wunden verbunden, Kranke besucht werden, kurzum: Glaube, Hoffnung und Liebe gelebt werden (siehe Impuls „CA VII weiterdenken“, der ebenfalls auf dieser Homepage zu finden ist).


Die Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer bzw. verborgener Kirche ist ein großer Trost für all diejenigen, die an der mitunter armseligen Wirklichkeit der Kirche(ngemeinden) verzweifeln wollen.
Zugleich ist sie eine große Ermutigung: wir dürfen darauf vertrauen, dass Gott die sichtbare Kirche – und damit auch uns und unsere bescheidenen Versuche, Kirche Jesu Christi zu sein – in seinen Dienst nimmt, um sein Reich zu bauen. Und sie mahnt zur Demut: die verborgene Kirche findet sich auch außerhalb der sichtbaren und verfassten Kirche.
Deshalb dürfen und sollen wir das Unsere dazu beitragen, "dass die Kirche in Verkündigung, Lehre und Leben auf den Grund des Evangeliums gebaut wird", wie es in der Amtsverpflichtung unserer Landeskirche heißt.


Die Unterscheidung zwischen Glaubensgemeinschaft, Handlungsgemeinschaft und Rechtsgemeinschaft (Siehe u.a. Schramm, Steffen / Hoffmann, Lothar, Gemeinde geht weiter. Theorie- und Praxisimpulse für kirchliche Leitungskräfte. Stuttgart 2017. 18ff) erweitert das bisher Gesagte:

  • Kirche als Glaubensgemeinschaft ist die "geglaubte" Kirche, die nicht aus sich selbst entsteht, sondern Frucht des Wirkens Gottes ist, Wirkung des Geistes, der in Menschen Glauben weckt.
  • Kirche als Handlungsgemeinschaft bezeichnet das, was Menschen, die Auftrag, Zeichen des Reiches Gottes zu sein (Apg 1, 1ff) tun, um sich im Glauben und in der Gemeinschaft zu stärken und das Evangelium in Tat und Wort zu kommunizieren.
  • Kirche als Rechtsgemeinschaft beschreibt die Organisation bzw. Institution, die dafür sorgt, dass die Handlungsgemeinschaft ent- und bestehen kann.